Manuskripte 2023

Kirchentag in Nürnberg

In dieser Datenbank haben Sie die Möglichkeit, Redebeiträge vom Kirchentag in Nürnberg 2023 einzusehen.

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Sperrfrist
So, 11. Juni 2023, 10.00 Uhr

So
10.00–11.30
in Deutscher Gebärdensprache mit Untertitelung in leichter Sprache
Schlussgottesdienste | Großgottesdienst
Alles hat seine Zeit
Schlussgottesdienst in Leichter Sprache
Alexander Brandl, Pfarrer und Blogger, München

Hätte sie „nein“ gesagt zu diesem Kuss. Draußen vor der Bar. Und wäre sie nicht mit allen Sinnen in diese Liebe gestürzt. Vielleicht, sagt sie, wäre ihr Leben anders verlaufen. Vielleicht hätte sie das Studium abgeschlossen. Vielleicht, sagt meine Bekannte, säße sie nicht hier auf der Spielplatzbank. An ihrem Stammplatz, wo sie mit den Nägeln kleine Kerben in das Holz ritzt, wenn der Zweifel in ihr aufsteigt. Und dann steht sie auf. Sammelt das Spielzeug auf. Stopft es für den nächsten Tag in einen Beutel. Und geht. Den Weg, von dem sie sagt: Es ist meiner.

Für alles gibt es eine Zeit, heißt es in der Bibel. Ja? Ich habe den Eindruck: Manche Zeiten sind irgendwann vorbei. Du musst dich im Leben entscheiden, heißt es. Aber ist das, was am Ende bleibt, wirklich das, was ich wollte?

Für alles gibt es eine Zeit. Das klingt wie: Alles ist drin im Leben. Als ich neben meiner Bekannten auf der Bank sitze, merke ich: Es ist nicht für alle alles drin. Sie hat sich entschieden: Kinder statt Karriere. Aber warum musste sie sich entscheiden? Jetzt sitzt sie da. Voller Selbstzweifel. Mit Schuldgefühlen sogar. Weil sie ein Kind zur Welt gebracht hat?

Ich merke: So einfach läuft das nicht mit dem Entscheiden. Das ist nicht einfach „ene, mene, miste“. Ob ich mich überhaupt entscheiden kann, haben oft schon andere für mich entschieden. Ob eine Mutter sich dazu entscheiden kann, wie ein Mann berufliche Träume zu leben, ohne Einbußen, ohne Karriereknick, dazu ebnen wir überhaupt erst den Weg. Oder eben nicht. Wir tun das, indem wir als Gesellschaft eine Haltung entwickeln. Und ja, wir tun das auch an der Wahlurne. Ob Menschen im Jahr 2080 sich überhaupt noch entscheiden können, in Ländern der afrikanischen Sahel-Zone zu leben oder ob sich diese Frage dann gar nicht mehr stellt, weil die Welt derart überhitzt ist – dazu ebnen wir heute den Weg. Oder eben nicht.

Und dann kommen mir die Worte der Bibel in den Sinn. Für alles gibt es eine Zeit. Ich habe das lange nur als Zuspruch verstanden. Alles zu seiner Zeit – hab Vertrauen. Inzwischen höre ich in den Worten noch etwas anders. Eine Erinnerung. Für alles gibt es eine Zeit. Das heißt auch: Allem sollt ihr seine Zeit geben. Tanzen, Trauern, Lachen, Weinen, Sterben. Es ist Gottes Markt der Lebens-Möglichkeiten. Nicht alle finden wir gut. Aber alle sollen dazugehören.

Nichts soll verdrängt werden. Das Sterben nicht, das zu oft hinter den Mauern von Pflegeheimen und Krankenhäusern versteckt bleibt. Der Krieg nicht, der uns erinnert, dass Friede nicht vom Himmel fällt. Das Tanzen nicht, wenn wir uns in Sorgen verbeißen.

Und niemand soll verdrängt werden aus Gottes Markt der Möglichkeiten. Wenn Menschen an der Entfaltung ihres Lebens gehindert werden, müssen wir als Christinnen und Christen Einspruch erheben. Wenn Lebensentwürfe zurechtgestutzt werden, damit eine Mehrheit sich daran nicht pikst, dann erinnern wir uns: Gott ist ein Gott des Lebens – nicht der Gott eines bestimmten Lebensmodells. Die Bibel traut unserem Leben ganz schön was zu. Trauen wir einander auch was zu.

In den letzten fünf Tagen hatte ich das Gefühl: Mir wird was zugetraut. Ich kann mich entscheiden, auf einem Kirchentag zu einem Gottesdienst in leichter Sprache zu gehen. Ich kann mich entscheiden, mit Wildfremden Lobpreislieder zu singen. Ich kann mich entscheiden, von betroffenen Menschen über Rassismus in der Kirche zu lernen. All das ist möglich. Und zugleich ist all das nicht selbstverständlich. Wir bestimmen gemeinsam, was geht. Indem wir uns einlassen. Dinge ansprechen. Einander zuhören. Auf einem Kirchentag. In der Gesellschaft. In dieser Zeit, die wir teilen.

Ich will, dass wir die Bibel beim Wort nehmen. Dass es für alles eine Zeit gibt. Und heute, hier, gibt es eine Zeit für Dr. Constanze Pott und ihre Geschichte. Sie ist Mitglied der Landessynode in Bayern. Ich habe von ihrer Entscheidung erfahren, als ich gerade diese Predigt verfasst habe. Plötzlich haben die Worte der Bibel nochmal anders geklungen. Für alles gibt es eine Zeit. Das ist auch tröstlich. Wie ein süßes Versprechen. Irgendwann kommt die Zeit.

30. August 2020. Der erste Lockdown ist vorbei. Zeit für Urlaub. Auch für mich. Aber meine Bikinis und Sommerkleider trage ich nur heimlich. Ich bin die Frau, die ihre Mutter pflegt und sich die Haare lang wachsen lässt. Ich bin der Mann, der das Elternhaus repariert und als Projektleiter Verhandlungen führt. An diesem Tag stehe ich vor dem offenen Kofferraum. Bis oben hin ist er beladen mit Damenschuhen und Frauenklamotten. Ich entsorge alles im Altkleidercontainer. Mit Tränen in den Augen. Es soll der Neuanfang als Mann werden. Aber ich bin nur verzweifelt.

Die Menschen tun viel. Und für alles gibt es eine Zeit. Eine Zeit zum Schweigen. Eine Zeit zum Weinen. Eine Zeit zum Trauern.

20. März 2023. Einer der ersten warmen Frühlingstage. Ich gehe in meinem neuen Blazer, in Absatzschuhen und dezent geschminkt durch die Erlanger Fußgängerzone. Frauen nehmen mich kaum wahr. Männer schauen mir hinterher. Alles gut also. Mein Gang ist noch wackelig, aber ich habe ein Ziel: Ein Minirock für diesen Sommer. Ich bin von einem neuen Glücksgefühl beseelt. Und eines wird mir immer klarer: Ich will die Transition vom Mann zur Frau.

Für alles gibt es eine Zeit. Eine Zeit zum Heilen. Eine Zeit zum Lieben. Eine Zeit für die Geburt. Die Menschen tun viel. Und Gott tut viel.

4. Mai 2025. Es ist der Schlussgottesdienst des Kirchentags in Hannover. Ich möchte, dass wir uns wiedersehen. Und uns zurückerinnern. An den Geist, der uns schon heute hier getragen hat. An das gemeinsame Abendmahl. An die Gemeinschaft in Jesus Christus, die mir Kraft gibt. Wir werden uns zurückerinnern. Und ich werde nach vorne blicken. Als Frau.

Für alles gibt es eine Zeit. Lasst uns das wahrmachen! Ich will, dass die Geburt eine Zeit hat. Dass wir offen sind für das, was in Menschen neu geboren werden kann. Ich will, dass Schweigen seine Zeit hat. Wer schweigt, kann zuhören, wahrnehmen, verstehen – und lernen. Ich will, dass Heilen eine Zeit hat. Dass wir verzeihen können, wenn wir uns Wunden zugefügt haben, weil wir noch nicht so weit waren. Ich will, dass das Sterben eine Zeit hat. Dass wir ziehen lassen, was tot ist in uns, was uns lähmt und beschwert. Ich will nicht, dass Hass und Krieg ihre Zeit haben. Aber ich will eine Gesellschaft, die feinfühlig ist für die Kämpfe, die wir alle in uns austragen. So oft sieht man sie von außen nicht. Ich will, dass das uralte Versprechen der Bibel wahr wird. Dass Liebe eine Zeit hat. Ich bin überzeugt: Ein Zeitalter der Liebe ist möglich. Wir müssen uns nur dazu entscheiden.

Amen.


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